Das überflüssige Gerüst

Die Früherkennung potenzieller Gefahrenquellen hat bei der National Starch & Chemical GmbH in Hamburg System
von Elfi Braun | aus Akzente

Bild: Gefahrenanalyse

Potenzielle Gefahrenquellen, auch wenn sie noch so unbedeutend erscheinen, darf es bei der National Starch & Chemical GmbH in Hamburg grundsätzlich nicht geben. Um diese Zielvorgabe in der betrieblichen Praxis lückenlos um­zusetzen, führte das Unternehmen ein E-Mail-gestütztes Melde- und Kontroll­system ein, an dem sich alle Mitarbeiter beteiligen. Ein überzeugendes Konzept, fand die BGN und zeichnete das Unternehmen mit dem Präventionspreis 2006 in der Kategorie »Organisation und Motivation« aus.

Elektromeister Andreas Wiemann hat eine E-Mail bekommen. Verfasst hat sie sein Kollege Andreas Juliz. Beim Öffnen des Anhangs erkennt Wiemann das Formular und weiß sofort: Hier meldet ein Kollege über die TIPS-Datenbank* einen unsicheren Zustand, dessen Beseitigung der Werkstattleiter in die Wege leiten muss. Und so ist es auch: Trockner 1 war vor Kurzem abgeschaltet und gewartet worden. Wiemann, mitverantwortlich für die Instandhaltung, hatte am Trockner ein Gerüst stellen lassen, damit das Instandhaltungspersonal sicher an die hochgelegenen Sensoren herankam, um sie zu prüfen. Die Arbeiten waren längst abgeschlossen, der Trockner wieder in Betrieb, aber das Gerüst war stehen geblieben. Und jetzt verhindert eine Gerüststrebe, dass der Maschinenführer bei der regelmäßigen Inspektion des Trocknerkanals die Tür oberhalb der Einwurfschleuder - wie in der Verfahrensanweisung vorgeschrieben - bis zum Anschlag hochklappen kann. Um sicherzustellen, dass die zurzeit nicht arretierbare Tür während der Inspektion trotzdem nicht herabfallen kann, hat sich der Maschinenführer eine Zwischenlösung einfallen lassen. Er bindet die geöffnete Tür während der Inspektion mit einem Seil fest.
Der elektronischen Akte über diesen unsicheren Zustand entnimmt Andreas Wiemann auch, dass der Abbau des Gerüsts möglichst zeitnah erfolgen soll. Der Kollege hat den durch die Gerüststrebe verursachten unsicheren Zustand als »mittelgroßes Risiko« klassifiziert. Daraus leitet sich der Dringlichkeitsgrad der Maßnahme, also der Gerüstbeseitigung, ab. Andreas Wiemann weiß, was er zu tun hat. Noch am selben Tag beauftragt er den Gerüstbauer, das Gerüst wieder zu entfernen. Außerdem weist er alle Mitarbeiter des Tankhauses auf die potenzielle Gefahr hin. Beides vermerkt er ebenfalls in der elektronischen Akte.

* TIPS = Training, Ideen, Prozeduren, Sicherheit

Bild: Jens-Dieter Heins
Jens-Dieter Heins

Dynamischer Sicherheitsprozess
Außer Andreas Wiemann hat auch der Vorgesetzte von Andreas Juliz, der den Fall gemeldet hat, die E-Mail bekommen. Denn der Chef muss mit darauf achten, dass der unsichere Zustand behoben wird. Einblick in alle in der Datenbank gemeldeten Fälle hat der im Werk für Arbeits- und Umweltschutz Hauptverantwortliche, Jens-Dieter Heins. Der European SHE-Manager (SHE = Safety, Health and Environment) von National Starch erklärt: »Mit der Datenbank verfügen wir über ein Instrument, das es ermöglicht, unsichere Zustände und Beinahe-Unfälle systematisch zu erfassen, zu klassifizieren, die Ursachen abzustellen bzw. zu beseitigen und diese Maßnahmen zu überwachen. Auf diese Weise findet ein kontinuierlicher und dynamischer Sicherheitsprozess statt, dessen aktuellen Stand ich jederzeit abrufen kann.«
Dieser Status quo setzt sich aus verschiedenen Arten von Meldungen zusammen. Der unsichere Zustand oder Beinahe-Unfall, den ein Mitarbeiter erkennt und meldet mit dem Ziel, das daraus entstehende Risiko zu minimieren oder zu beseitigen, ist eine von insgesamt drei Meldearten. Auch Verbesserungsvorschläge geben die Mitarbeiter per Formular in der TIPS-Datenbank ein, von wo sie automatisch den Verantwortlichen zur Umsetzung zugeleitet werden. Die dritte Art der Meldung ist die Dokumentation von Stopp-Gesprächen. Jens-Dieter Heins erklärt: »Wenn sich ein Mitarbeiter unsicher verhält, z. B. beim Treppensteigen den Handlauf nicht benutzt, und ein anderer sieht es, dann stoppt ihn der Mitarbeiter, der es gesehen hat. Dieser weist ihn auf die unsichere Situation hin und spricht mit ihm, um eine solche Situation künftig zu vermeiden. Anschließend wird das Stopp-Gespräch auf einer Stopp-Karte dokumentiert.«

Bild: E-Mail mit der Gefahrenmeldung

Zielvereinbarung Sicherheit
Die Stopp-Gespräche liefern Erkenntnisse über das Sicherheitsverhalten der Mitarbeiter, aus denen sich die Schwerpunkte für die nächs­te Sicherheitsaktion ableiten. Jens-Dieter Heins: »Sicherheit ist eine Zielvereinbarung, die von allen Mitarbeitern getragen wird. Alle hier im Werk sind in den Sicherheitsprozess einbezogen. Die TIPS-Datenbank ist ein Teil dieses Prozesses und für jeden zugänglich.« Und damit die Datenbank auch genutzt wird, erhielten alle Mitarbeiter eine Einweisung in die Benutzung.
Das Bedien-Know-how ist eine Seite. Die andere sind die Inhalte und die Bereitschaft, sie in die Datenbank einzugeben. Überzeugend für die Mitarbeiter ist, dass überall sichtbar wird, dass das Unternehmen der Sicherheit höchste Priorität einräumt. Alle gemeldeten Schwachpunkte werden ausgeräumt. Jede tägliche Frühbesprechung in Produktion und Instandhaltung beginnt mit dem Thema Sicherheit. Alle Datenbank-Eingaben des Vortages und alle Stopp-Karten werden besprochen. Einmal im Jahr fährt man im gesamten Hamburger Stärkewerk für einen ganzen Tag die Produktion herunter, um mit den Mitarbeitern über Sicherheitsbelange zu sprechen. Jens-Dieter Heins: »An diesem Tag wollen wir die Akzeptanz unserer Sicherheitsziele auffrischen und den Blick der Mitarbeiter für unsichere Zustände trainieren und schärfen.«

Ein lebendiges System
770 Meldungen hatte die rund 170 Mitarbeiter umfassende Belegschaft von National Starch Hamburg im Jahr 2006 bis Ende November bereits eingegeben. Und seit Einführung der TIPS-Datenbank Ende 2003 wurden insgesamt über 2.400 Melde-Formulare ausgefüllt.
Jens-Dieter Heins fügt stolz hinzu: »Letztes Jahr hat jeder Mitarbeiter mindestens eine Meldung gemacht.« Die konsequente Einbeziehung der Mitarbeiter in den Sicherheitsprozess und die kurzen Informationskreisläufe der E-Mail-gestützten Datenbank haben die Jury des BGN-Präventionspreises überzeugt. Bei National Starch in Hamburg hat man ein System entwickelt, das lebendig ist und nachhaltig wirkt.

 

Autor: Braun