9 Absturz


9.1

DGUV Vorschrift 38
§ 9 Absatz 1

  Eine Absturzgefahr besteht bei einer Absturzhöhe von mehr als 1,00 m.

 

Zu § 9 Abs. 1 DGUV Vorschrift 38 "Bauarbeiten" werden keine erläuternden Hinweise gegeben.


9.2

DGUV Vorschrift 38
§ 9 Absatz 2

  Der Unternehmer hat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die ein Abstürzen von Personen verhindern (Schutzvorrichtungen), vorhanden sind:
  1. unabhängig von der Absturzhöhe an
    • Arbeitsplätzen an und über Wasser oder anderen festen oder flüssigen Stoffen, in denen man versinken kann,
    • Verkehrswegen über Wasser oder anderen festen oder flüssigen Stoffen, in denen man versinken kann;
  2. bei mehr als 1,00 m Absturzhöhe, soweit nicht nach Nummer 1 zu sichern ist, an
    • freiliegenden Treppenläufen und -absätzen,
    • Wandöffnungen und
    • Verkehrswegen;
  3. bei mehr als 2,00 m Absturzhöhe an allen übrigen Arbeitsplätzen.

Abweichend von Nummer 2 und 3 sind Schutzvorrichtungen bei einer Absturzhöhe bis 3,00 m entbehrlich an Arbeitsplätzen und Verkehrswegen auf Dächern und Geschossdecken mit bis zu 22,5° Neigung und nicht mehr als 50 m² Grundfläche, sofern die Arbeiten von hierfür fachlich qualifizierten und körperlich geeigneten Versicherten ausgeführt werden, welche besonders unterwiesen sind und die Absturzkante deutlich erkennen können.

 

Bei der Ermittlung und Beurteilung der Gefährdung durch Absturz sind mindestens die nachfolgenden Kriterien zu berücksichtigen:

  • Absturzhöhe,
  • Art und Dauer der Tätigkeit, körperliche Belastung,
  • Abstand von der Absturzkante,
  • Beschaffenheit (z. B. Neigungswinkel und Rutschhemmung) und Tragfähigkeit (z. B. Durchsturzgefahr) des Standplatzes bzw. der Standfläche,
  • Beschaffenheit der tiefer gelegenen Fläche, z. B. Wasser oder Flüssigkeiten (versinken, ertrinken), Beton (harter Aufschlag), Bewehrungsanschlüsse (aufspießen),
  • Beschaffenheit der Arbeitsumgebung und gefährdende äußere Einflüsse, z. B. Sichtverhältnisse, Erkennbarkeit (z. B. Beleuchtung, Tageszeit, Blendung), Witterungseinflüsse (z. B. Wind, Eis oder starker Schneefall),
  • Beschaffenheit der Arbeitsfläche im Hinblick auf Öffnungen in Böden, Decken oder Dachflächen sowie Vertiefungen.

Schutzvorrichtungen sind z. B. Umwehrungen in Form von Brüstungen, Geländern, Gittern, dreiteiliger Seitenschutz oder betretbare und unverschiebliche Abdeckungen.

Anforderungen an die Abmessung und Ausführung von Schutzvorrichtungen sind z. B. enthalten in

  • DIN 4420-1:2004-03 "Arbeits- und Schutzgerüste – Teil 1: Schutzgerüste – Leistungsanforderungen, Entwurf, Konstruktion und Bemessung",
  • DIN 4426:2017-01 "Einrichtungen zur Instandhaltung baulicher Anlagen – Sicherheitstechnische Anforderungen an Arbeitsplätze und Verkehrswege – Planung und Ausführung bzw. den baurechtlichen Vorgaben für bestehende bauliche Anlagen",
  • DIN EN 12811-1:2004-03 "Temporäre Konstruktionen für Bauwerke, Teil 1: Arbeitsgerüste, Leistungsanforderungen, Entwurf, Konstruktion und Bemessung",
  • DIN EN 13374:2019-06 "Temporäre Seitenschutzsysteme, Produktfestlegungen und Prüfverfahren",
  • DGUV Information 201-023 "Einsatz von Seitenschutz und Seitenschutzsystemen sowie Randsicherungen als Schutzvorrichtungen bei Bauarbeiten".

Die Forderung nach Schutzvorrichtungen ist erfüllt, wenn

  • an Treppenabsätzen und Leiterpodesten, die ausschließlich als Verkehrsweg dienen, sowie an Treppenläufen ein Seitenschutz angebracht ist, der aus Geländer und Zwischenholm besteht und in Abmessungen und Ausführung den Anforderungen nach DIN EN 12811-1:2004-03 "Temporäre Konstruktionen für Bauwerke – Teil 1: Arbeitsgerüste – Leistungsanforderungen, Entwurf, Konstruktion und Bemessung" und DGUV Information 201-023 "Einsatz von Seitenschutz und Seitenschutzsystemen sowie Randsicherungen als Schutzvorrichtungen bei Bauarbeiten" entspricht,
  • im Stahlbau an Laufstegen als Seitenschutz straff gespannte Stahlseile (Horizontalkraft von 0,3 kN, max. Durchbiegung 5,5 cm) in 0,50 m und 1,00 m Höhe über dem Belag und Bordbrett angebracht sind. Bei nicht vorhandener Wandung ist dies beidseitig auszuführen,
  • bei Schornsteinfegerarbeiten fest installierte Einrichtungen der baulichen Anlage genutzt werden, die den Anforderungen nach DIN 18160-5:2016-04 "Abgasanlagen – Teil 5: Einrichtungen für Schornsteinfegerarbeiten Anforderungen, Planung und Ausführung" entsprechen.

Stoffe, in denen man versinken kann, sind z. B. Flüssigkeiten, Schlämme, Schüttgüter in Silos oder Halden.

An Wandöffnungen besteht dann Absturzgefahr i. S. v. § 9 Abs. 2 Nr. 2 DGUV Vorschrift 38 "Bauarbeiten" (siehe Abbildung 3), wenn diese ein lichtes Maß von mehr als 1,00 m in der Höhe und 0,30 m in der Breite aufweisen und zugleich die vorhandene Brüstungshöhe kleiner als 1,00 m ist.

Abb. 3 Schematische Darstellung von Wandöffnungen und entsprechende Schutzmaßnahmen

Abb. 3 Schematische Darstellung von Wandöffnungen und entsprechende Schutzmaßnahmen


Einrichtungen und Maßnahmen zur Sicherung gegen Absturz von Personen sind unabhängig von der Absturzhöhe nicht erforderlich, wenn

  1. der horizontale Abstand der Absturzkante bei Arbeitsplätzen oder Verkehrswegen höchstens 0,30 m von anderen tragfähigen und ausreichend großen Flächen beträgt,
  2. Arbeitsplätze oder Verkehrswege auf Flächen bis 22,5° Neigung liegen und in mindestens 2,00 m Abstand von den Absturzkanten fest abgesperrt sind, z. B. durch Geländer, Ketten oder Seile. Trassierbänder sind keine feste Absperrung. Zudem darf keine Gefährdung durch Glätte bestehen, so dass die Personen unter der Absperrung durchrutschen könnten.
  3. Verkehrswege bei Wartungs- und Inspektionsarbeiten auf Flächen bis 22,5° Neigung genutzt werden, die mindestens einen Abstand von 2,00 m zur Absturzkante aufweisen, optisch deutlich erkennbar sind und damit der Gefahrenbereich abgegrenzt ist.

Hochgelegene Arbeitsplätze auf Leitern und die Verwendung von Leitern als Verkehrswege sind von den Bestimmungen des § 9 Abs. 2 DGUV Vorschrift 38 "Bauarbeiten" ausgenommen, siehe § 8 Abs. 7 DGUV Vorschrift 38 "Bauarbeiten".


9.3

DGUV Vorschrift 38
§ 9 Absatz 3

  Lassen sich aus arbeitstechnischen Gründen Schutzvorrichtungen nicht verwenden, hat der Unternehmer dafür zu sorgen, dass an deren Stelle Einrichtungen zum Auffangen abstürzender Personen (Auffangeinrichtungen) vorhanden sind.

 

Auffangeinrichtungen (z. B. Schutznetze, Sicherheitsnetze, Schutzwände, Schutzgerüste) müssen abstürzende Personen wirksam auffangen und vor weiterem, tieferen Absturz schützen.

"Arbeitstechnische Gründe" können z. B. vorliegen, wenn

  • Arbeiten direkt an der Absturzkante durchgeführt werden müssen und durch Einrichtungen, die ein Abstürzen von Personen verhindern (Absturzsicherungen), nicht durchführbar wären
    oder
  • Absturzsicherungen aufgrund der zu geringen Tragfähigkeit der Konstruktion an der Absturzkante nicht befestigt werden können.

Auffangeinrichtungen sind möglichst dicht unterhalb der zu sichernden Absturzkante zu errichten. Der maximale Höhenunterschied darf zwischen der Absturzkante bzw. dem Arbeitsplatz und Gerüstbelag oder Auffangnetz beim Verwenden von

  1. Ausleger- und Konsolgerüsten nicht mehr als 2,00 m,
  2. Dachfanggerüsten nicht mehr als 1,50 m,
  3. allen sonstigen Fanggerüsten nicht mehr als 2,00 m,
  4. Schutznetzen nicht mehr als 3,00 m
betragen.

9.4

DGUV Vorschrift 38
§ 9 Absatz 4

  Lassen sich keine Schutzvorrichtungen oder Auffangeinrichtungen einrichten, hat der Unternehmer dafür zu sorgen, dass persönliche Schutzausrüstungen gegen Absturz (PSAgA) als individuelle Schutzmaßnahme verwendet werden. Die geeignete PSAgA muss sich aus der Gefährdungsbeurteilung ergeben.

Voraussetzung ist das Vorhandensein geeigneter Anschlageinrichtungen.

Der weisungsbefugte und fachkundige Vorgesetzte hat die geeigneten Anschlageinrichtungen im Einzelfall festzulegen. Die Versicherten müssen in der Verwendung der PSAgA und über die Durchführung der erforderlichen Rettungsmaßnahmen unterwiesen werden.

 

Bei der Auswahl der Schutzmaßnahmen gegen Absturz gilt als Grundsatz der Vorrang der technischen Schutzmaßnahmen (Absturzsicherungen, Auffangeinrichtungen) vor der Verwendung von individuellen Schutzmaßnahmen (z. B. PSAgA).

Lassen sich im Einzelfall aus arbeitstechnischen Gründen oder auf Grund der örtlichen Gegebenheiten Absturzsicherungen oder Auffangeinrichtungen nicht verwenden, darf PSAgA verwendet werden.

Die Versicherten müssen in der Verwendung der PSAgA und über die Durchführung der erforderlichen Rettungsmaßnahmen in Theorie und Praxis unterwiesen werden (siehe § 31 DGUV Vorschrift 1 "Grundsätze der Prävention").

Die Verwendung von PSAgA setzt eine Gefährdungsbeurteilung für die vorgesehene Tätigkeit voraus. Dabei ist eine Bewertung der Eignung der vorgesehenen PSAgA vorzunehmen. Unter anderem sind folgende Aspekte zu berücksichtigen:

  • Die PSAgA muss entsprechend den Randbedingungen am Arbeitsplatz ausgewählt werden, z. B. die Kantenbeanspruchung von Verbindungsmitteln an Absturzkanten und die erforderliche lichte Höhe (Freiraum) unterhalb des Standplatzes des Benutzers bzw. der Benutzerin.
  • Zur PSAgA gehörende personengebundene Rückhaltesysteme sollten bevorzugt verwendet werden.
  • Es ist ein geeignetes Rettungskonzept aufzustellen, welches eine schnelle und sichere Rettung aufgefangener Personen sicherstellt.
  • Die zur Umsetzung des Rettungskonzeptes gegebenenfalls erforderliche Ausrüstung ist am Einsatzort bereit zu halten.
  • Der Umgang mit PSAgA und das Rettungskonzept sind den Versicherten durch Unterweisung inklusive Übungen zu vermitteln.
  • Bei der Auswahl der Anschlageinrichtungen ist unter anderem die Tragfähigkeit der Konstruktion zu berücksichtigen. Anschlageinrichtungen sind bestimmungsgemäß zu verwenden. Die Gebrauchsanleitungen von Herstellern sind zu beachten.

Anforderungen an die geeignete PSAgA enthält insbesondere die DGUV Regel 112-198 "Benutzung von persönlichen Schutzausrüstungen gegen Absturz".

Geeignete Anschlageinrichtungen sind z. B. solche, die den Anforderungen nach DIN 4426:2017-01 "Einrichtungen zur Instandhaltung baulicher Anlagen – Sicherheitstechnische Anforderungen an Arbeitsplätze und Verkehrswege – Planung und Ausführung" entsprechen.

"Weisungsbefugte und fachkundige Vorgesetzte" sind Personen i. S. v. § 3 Abs. 1 DGUV Vorschrift 38 "Bauarbeiten", die zudem Fachkenntnisse über die Benutzung von PSAgA besitzen.


9.5

DGUV Vorschrift 38
§ 9 Absatz 5

  Lassen die Eigenart und der Fortgang der Tätigkeit und die Besonderheiten des Arbeitsplatzes die vorgenannten Schutzmaßnahmen nicht zu, dürfen der Unternehmer und die Versicherten auf die Anwendung von persönlicher Schutzausrüstung gegen Absturz (PSAgA) im Einzelfall nur dann verzichten, wenn:
  • die Arbeiten von fachlich qualifizierten und körperlich geeigneten Versicherten ausgeführt werden,
  • der Unternehmer für den begründeten Ausnahmefall eine besondere Unterweisung durchgeführt hat und
  • die Absturzkante für die Versicherten deutlich erkennbar ist.

 

Dies gilt nur für Arbeitsplätze nach § 2 Abs. 7 DGUV Vorschrift 38 "Bauarbeiten".

Auf PSAgA kann nur dann verzichtet werden, wenn alle anderen möglichen Maßnahmen zum Schutz gegen Absturz für den jeweiligen Einzelfall beurteilt wurden und in besonders begründeten Ausnahmefällen nicht angewendet werden können. Die besonderen Gründe sind für den jeweiligen Einzelfall vom Unternehmer bzw. von der Unternehmerin in der Gefährdungsbeurteilung zu dokumentieren. Es empfiehlt sich, den Nachweis der besonderen Unterweisung mit Unterweisungsinhalt und den Unterschriften der Unterwiesenen am Ort der Bauarbeit bereitzuhalten.