3 Ermittlung und Beurteilung von Gefährdungen und Belastung
3.1 Ermittlung von Gefährdungen und Belastung des
Menschen im Arbeitssystem bei der Verwendung
von Arbeitsmitteln
3.1.1 Inbetriebnahme von Arbeitsmitteln
(1) Vor jeder erstmaligen Inbetriebnahme eines Arbeitsmittels,
bei dem mit Wechselwirkungen im Arbeitssystem
(Erstinbetriebnahme, wesentliche Änderung, Verlagerung/
Umsetzung, Änderung des Arbeitssystems) zu rechnen ist,
ist der Planung dieses Arbeitssystems besondere Aufmerksamkeit
zu schenken. Hierbei sind die Wechselwirkungen
des Arbeitsmittels im gesamten Arbeitssystem unter der besonderen
Berücksichtigung der Auswirkungen auf den Menschen
zu betrachten und zu beurteilen.
(2) Einer Beanspruchung der Beschäftigten, die zu gesundheitlichen
Schäden führen kann, muss durch eine ergonomische
Gestaltung der Arbeitsmittel und mit der damit verbundenen
Gestaltung von Arbeitsaufgabe und Arbeitsumgebung
begegnet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
das einzelne Arbeitsmittel häufig ergonomisch gut gestaltet
ist, nicht aber seine Einordnung in einen größeren technischen
Kontext und seine Einbettung in eine bestimmte Arbeitsaufgabe.
Diese Bewertung ist erforderlich, um eine
schädigungsfreie Verwendung des Arbeitsmittels zu ermöglichen.
(3) Es genügt nicht, dass ein Arbeitsmittel zwar nach den betrieblichen
Erfordernissen sorgfältig ausgewählt wurde, dass
aber die gesamte Schnittstellenbearbeitung nicht oder nicht
ausreichend bearbeitet wurde (vergleiche Bekanntmachungen
für Betriebssicherheit BekBS 1113 „Beschaffung von
Arbeitsmitteln“).
(4) Es ist vor der Inbetriebnahme eines Arbeitsmittels, bei
dem mit Wechselwirkungen im Arbeitssystem zu rechnen
ist, im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung eine Systemanalyse
gemäß Belastungs-Beanspruchungs-Modell durchzuführen
(siehe Nummer 2.3). Dabei sind insbesondere die
nachfolgenden Fragen zu klären:
- Wie sieht die Aufgabe mit dem neuen Arbeitsmittel im
Arbeitssystem aus?
- Welche Tätigkeiten werden vor und nach der Verwendung
des neuen Arbeitsmittels durchgeführt?
- Welche Arbeitsmittel sind mit dem neuen Arbeitsmittel
verkettet?
- Welche Vorbereitungsmaßnahmen sind erforderlich, bevor
das neue Arbeitsmittel in Betrieb genommen werden
kann?
- Welche körperlichen, psychischen und kognitiven Anforderungen
stellt die Bedienung des neuen Arbeitsmittels
an den Beschäftigten?
- Welche Mitarbeiter sollen das neue Arbeitsmittel bedienen
und wie werden diese darauf vorbereitet?
3.1.2 Gefährdungen und Belastungen an der Schnittstelle
Mensch – Arbeitsmittel
Eine nach arbeitswissenschaftlichen Kriterien erfolgende
Gestaltung der Verwendung von Arbeitsmitteln hat neben
der auftretenden Belastung auch die individuellen Eigenschaften
der Beschäftigten, z. B. Alter und Geschlecht, zu
berücksichtigen. Dabei ist die Variabilität der individuellen
Leistungsvoraussetzungen (z. B. Sehschärfe, Lichtbedarf,
Körperkräfte, Händigkeit, Reaktionsgeschwindigkeit, Erfahrung,
Kompetenz) zu beachten. Bei einer nicht nach arbeitswissenschaftlichen
Kriterien erfolgten Gestaltung können
durch Wechselwirkungen zwischen Mensch und Arbeitsmittel
im Arbeitssystem z. B. Gefährdungen hervorgerufen
werden durch:
- für die Arbeitsaufgabe mangelhaft gestaltete Arbeitsmittel wie z. B.
- zu kleine oder fehlerhafte Kennzeichnungen,
- fehlende oder schlecht wahrnehmbare Warnsignale,
- Anzeigen mit schlechten Kontrasten, defizitärer
Farbgestaltung oder Zeichengröße,
- eine nicht erwartungskonforme Gestaltung von Stellteilen
oder Bedienelementen,
- eine nicht ergonomische räumliche Gestaltung und
Anordnung (z. B. schlechte Erreichbarkeit, Zwangshaltung),
- die fehlende Verfügbarkeit geeigneter Arbeitsmittel,
- die Anreize zur Manipulation von Schutzeinrichtungen
bieten (siehe Anlage 6);
- ungeeignete Lage oder Anordnung der Arbeitsmittel bei
- unzureichender maßlicher Gestaltung (z. B. schlechte
Erreichbarkeit durch fehlende Berücksichtigung der
Körpermaße, erzwungene Haltungen, fehlende Bewegungsanreize),
- fehlender Verfügbarkeit geeigneter Arbeitsmittel;
- Tätigkeiten mit Arbeitsmitteln durch mangelhafte Arbeitsaufgabengestaltung
z. B. durch
- mangelhafte Aufgabenbeschreibung/Aufgabenbearbeitung,
- unangemessenen Aufgabeninhalt,
- Unvollständigkeit der Aufgabe,
- unzureichende Tätigkeits- und Handlungsspielräume,
- unangemessene und unzureichende Informationen
und Kommunikation, fehlende Festlegung von Kompetenzen
und Verantwortlichkeiten, unzureichende
Qualifikation der Beschäftigten,
- fehlende Unterweisung und Einweisung,
- Zwang zur Daueraufmerksamkeit,
- ungeplante Arbeiten,
- fehlende Pausen;
- nicht auf die Tätigkeit mit dem Arbeitsmittel angepasste
Arbeitsorganisation z. B. durch
- unangemessene Arbeitszeitregime oder Arbeitsplanung
(Überforderung durch Zeitdruck),
- unzureichende Ressourcen (z. B. fehlender Einweiser
bei Rückwärtsfahrten mit Erdbaumaschinen ohne
Rückfahrkamera),
- fehlende Planung von erforderlichen Instandhaltungsmaßnahmen,
- unzureichende Aufgabenabstimmungen (insbesondere
an den Schnittstellen zwischen Arbeitsgruppen,
aber auch innerhalb von Teams),
- mangelhafte Verfügbarkeit von persönlicher Schutzausrüstung,
- unzureichende Tätigkeits- und Handlungsspielräume,
- körperlich schwere oder einseitig belastende Arbeit,
fehlende Bewegungsanreize,
- hohe psychische Beanspruchung (z. B. Monotonie,
Sättigung, Ermüdung, Stress);
- eine nicht auf die Tätigkeit mit dem Arbeitsmittel angepasste
Arbeitsumgebung z. B. durch
- Klima (z. B. Luftfeuchtigkeit, Hitze, Kälte),
- Beleuchtung,
- Lärm oder Vibration,
- Gerüche,
- unsichere Verkehrswege-/Raumgestaltung (z. B. keine
räumliche Trennung zwischen Verkehrswegen und
sonstigen Arbeitsbereichen an Arbeitsmitteln).
3.1.3 Gefährdungen durch Wechselwirkungen zwischen
Arbeitsmittel und Arbeitsmittel
Durch Wechselwirkungen der Arbeitsmittel untereinander
können zusätzlich Gefährdungen hervorgerufen oder bereits
bestehende Gefährdungen verändert werden z. B. durch
- mehrere sich unabhängig voneinander bewegende Arbeitsmittel,
- ungeeignete Platzierung von unter Druck stehenden Arbeitsmitteln,
- Störung der Steuerung eines Arbeitsmittels durch elektromagnetische
Wechselwirkungen zwischen Arbeitsmitteln.
3.1.4 Gefährdungen durch Wechselwirkungen zwischen
Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand
Durch Wechselwirkungen der Arbeitsmittel mit Arbeitsgegenständen
können insbesondere Gefährdungen hervorgerufen
oder verändert werden z. B. durch
- unkontrolliert bewegte oder wegfliegende Arbeitsgegenstände
oder durch unkontrolliert bewegte Arbeitsmittel
durch Einwirken des Impulses austretender Medien,
- Stäube, Dämpfe oder Rauche, z. B. beim Bearbeiten von
Arbeitsgegenständen,
- elektrisch leitende Arbeitsgegenstände und nicht ausreichende
Schutzart (Isolierung) des elektrischen Arbeitsmittels,
- sehr heiße Medien (z. B. flüssiges Roheisen), die aus Arbeitsmitteln
durch schlagartiges Verdampfen von Wasser
(z. B. Leckage im Kühlsystem) herausgeschleudert werden,
- unkontrolliertes Austreten oder Freisetzen heißer oder
tiefkalter Arbeitsgegenstände beim Verwenden eines Arbeitsmittels,
- unkontrolliertes Austreten oder Freisetzen heißer oder
tiefkalter Arbeitsgegenstände beim Verwenden eines Arbeitsmittels,
- Funktionsverlust von sicherheitsrelevanten Einrichtungen,
z. B. durch Abrieb beschädigte mechanische Positionsschalter
oder durch Ablagerungen.
3.1.5 Gefährdungen durch Wechselwirkungen mit der Arbeitsumgebung
Durch die Wechselwirkungen beim Verwenden von Arbeitsmitteln
mit der Arbeitsumgebung können Gefährdungen
hervorgerufen oder verändert werden, z. B. durch
- Quetschen zwischen sich bewegenden Arbeitsmitteln
und ortsfesten Gegenständen in der Arbeitsumgebung,
durch Kippen von Arbeitsmitteln, hervorgerufen durch
Winddruck auf Arbeitsmittel oder aufgrund nicht ausreichender
Tragfähigkeit des Untergrunds,
- Unterschreiten des Sicherheitsabstandes oder Berühren
unter Spannung stehender Teile durch sich bewegende
Arbeitsmittel, mechanische Beschädigung der Isolation
unter Spannung stehender Teile oder Verwendung ungeeigneter
elektrischer Arbeitsmittel in leitfähigen Bereichen,
- Beschädigen von Rohrleitungen für entzündliche oder
toxische Stoffe durch mobile Arbeitsmittel,
- Erwärmung oder Abkühlung von Arbeitsmitteln durch
die Arbeitsumgebung,
- Auswirkung der Gestaltung der Arbeitsumgebung auf
die Stärke der Immission von Lärm, Vibration und optischer
Strahlung.
3.2 Beurteilung von Gefährdungen und Belastung
(1) Die ermittelten Gefährdungen sind nach den Grundlagen
der TRBS 1111 daraufhin zu bewerten, ob zusätzliche Maßnahmen
zur Gefährdungsvermeidung oder, falls dies nicht
möglich ist, zur Minimierung der Gefährdungen erforderlich
sind. Bewertungskriterien sind auch in den TRBS zu
einzelnen Gefährdungen zu finden, wie z. B.
- TRBS 2111 (Mechanische Gefährdungen),
- TRBS 2141 (Gefährdungen durch Dampf und Druck),
- TRBS 2152 (Gefährliche explosionsfähige Atmosphäre).
(2) Der Ablauf für die Beurteilung der Gefährdungen aufgrund
von Wechselwirkungen der Systemelemente im Arbeitssystem
wird in Abbildung 4 beispielhaft erläutert.
Abb. 4 Beurteilung der Gefährdungen durch Wechselwirkungen
(3) Die Beurteilung der physischen und psychischen Belastung
und Beanspruchung zur menschengerechten Gestaltung
wird unterstützt durch die unter Nummer 2.3 Absatz 6
gestellten Leitfragen. Bei Hinweis auf kritische Belastungssituationen
(z. B. auf der Grundlage von Unfallanalysen oder
Arbeitsunfähigkeitsdaten ist eine vertiefte Beurteilung angezeigt.
Hierzu können z. B. die in der Anlage 1 genannten
Verfahren herangezogen werden. Die Auswahl der geeigneten
Methode richtet sich u. a. nach
- Ziel der Erhebung: Überblick oder detaillierte Information
zur Belastung (orientierendes Verfahren, Screeningverfahren,
Präzisionsverfahren),
- Anwendungsbereich des Verfahrens, z. B. Tätigkeitsklasse
(körperlich, geistig oder interaktiv; spezifisch oder
übergreifend), Branche,
- Methoden der Datengewinnung (z. B. Beobachtung, Befragung),
- Qualifikation des Verfahrensanwenders (ungeschult, geschult,
Experte),
- Gütekriterien der Verfahren.