6. Arbeitsmedizinische Prävention
6.1 Beteiligung an der Gefährdungsbeurteilung
Das Spektrum der im Abwasser und Klärschlamm vorkommenden biologischen Arbeitsstoffe variiert in Abhängigkeit von den Einleitern und den Vermehrungs- bzw. Inaktivierungsbedingungen, die in den Anlagen vorherrschen (Klima, Fließgeschwindigkeit, chemische Zusammensetzung des Abwassers). Hierbei können die Expositionsverhältnisse zeitlich starken Schwankungen unterliegen und auch räumlich sehr unterschiedlich sein und z. B. vom Arbeitsbereich, Arbeitsverfahren, Arbeitsmanagement und Hygienezustand des Arbeitsplatzes abhängen. Entsprechend ist ein breites Spektrum an infektiösen, toxischen und sensibilisierenden Wirkungen auf den Menschen zu berücksichtigen.
Als Aufnahmepfade können Mund, Atemwege sowie Haut- bzw. Schleimhaut in Frage kommen. Es besteht auch die Gefahr von verletzungsbedingten Infektionen, da z. B. weggeworfene, gebrauchte Spritzen vielfach in die Kanalisation gelangen (s. Kapitel 4.2 [3]).
Aufgrund dieser komplexen Gefährdungssituation ist arbeitsmedizinischer Sachverstand bei der Gefährdungsbeurteilung erforderlich, z. B. durch die Beteiligung des/der bestellten Betriebsarztes/Betriebsärztin.
6.2 Allgemeine arbeitsmedizinische Beratung
Bei der allgemeinen arbeitsmedizinischen Beratung stehen die Infektionsgefährdung durch biologische Arbeitsstoffe und die entsprechenden Schutzmaßnahmen im Vordergrund. Werden Tätigkeiten mit einer Gefährdung aufgrund sensibilisierender oder toxischer Wirkungen biologischer Arbeitsstoffe ausgeübt, ist auch darauf einzugehen. In die allgemeine arbeitsmedizinische Beratung ist der/die Arzt/Ärztin, der/die an der Gefährdungsbeurteilung beteiligt war, einzubeziehen.
Die Beschäftigten müssen insbesondere über Folgendes informiert bzw. beraten werden:
- Hinsichtlich der infektiösen Wirkungen über
- relevante Krankheitserreger,
- deren Vorkommen (unmittelbar im Abwasser wie z. B. Hepatitis-A-Viren und Erreger von Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes oder Übertragung durch Schadnager wie z. B. Hantavirus bei Vorkommen von Rötelmäusen, Leptospiren bei Vorkommen von Ratten),
- deren Übertragungswege,
- Krankheitsbilder,
- das evtl. erhöhte individuelle Erkrankungsrisiko bei verminderter Immunabwehr,
- die Sofortmaßnahmen und Maßnahmen der postexpositionellen Prophylaxe sowie das weitere Vorgehen entsprechend aktueller Empfehlungen im Hinblick auf Schnitt- oder Stichverletzungen (z. B. an einer kontaminierten Kanüle) über die Möglichkeit von Schmier- und Kontaktinfektionen von kontaminierter Kleidung auf vermeintlich saubere Hände bzw. vermeintlich saubere Flächen (z. B. Tische, Ablageflächen im Führerstand des Kanalreinigungsfahrzeugs).
Eine Übersicht über mögliche Krankheitserreger, deren Einstufung in Risikogruppen sowie die verursachten Erkrankungen gibt Kapitel 7, Anhang 1 und 2.
- Hinsichtlich der sensibilisierenden Wirkungen über:
- die Möglichkeit von Sensibilisierungen und allergischen Erkrankungen durch schimmelpilzhaltige Stäube sowie die Symptome, die bei einer solchen Erkrankung auftreten können wie
- am Auge: Bindehautentzündung mit Rötung, Tränenfluss, Lidschwellung, Fremdkörpergefühl und Juckreiz,
- an den oberen Atemwegen (Nase): Fließschnupfen, Stockschnupfen, Niesreiz, Verminderung des Riechvermögens,
- an den tiefen Atemwegen: pfeifende Atemnot, Gefühl der Brustenge, Husten, Auswurf, Kurzatmigkeit, Überempfindlichkeit der Atemwege (bronchiale Hyperreagibilität), Minderung der Lungenfunktion,
- an Haut und Mundschleimhaut: Hautausschläge mit Rötungen und Schwellungen (Quaddeln), Juckreiz an Gaumen, Haut oder im Gehörgang, Lippenschwellung sowie Entzündung der Mundschleimhaut,
- die möglichen gesundheitlichen Risiken, die insbesondere eine familiäre Prädisposition zur Allergieentstehung oder eine bereits bestehende allergische Erkrankung (z. B. Heuschnupfen, allergisches Asthma, chronische Atemwegs-/Lungenerkrankungen) sowie vorliegende Infekte (z. B. Erkältungen) haben können und die Maßnahmen, die in einem solchen Fall zu treffen sind (z. B. Inanspruchnahme von Wunschuntersuchungen, Tätigkeitswechsel)
- die konkreten Tätigkeiten, bei denen persönliche Schutzausrüstungen zu tragen sind sowie die Anleitung zu deren Handhabung. Die Notwendigkeit der Maßnahmen sollte erläutert werden, um die Akzeptanz zu gewinnen,
- soweit relevant die Problematik von Feuchtarbeit einschließlich der Hautschutz- und Hautpflegemaßnahmen,
- das Recht, beim Auftreten einer allergischen Erkrankung eine Angebotsuntersuchung nach § 5 Abs. 2 ArbMedVV wahrzunehmen, wenn Tätigkeiten nach Kapitel 4.3 ausgeübt werden.
- Hinsichtlich der toxischen Wirkungen über:
- Auslöser (in der Regel auf Endotoxine)
- Symptome (unspezifische Beschwerden der Schleimhäute des oberen Respirationstraktes und grippeähnliche Symptome – Organic dust toxic syndrome [ODTS]).
In der allgemeinen arbeitsmedizinischen Beratung sollen die Beschäftigten über die auf der Basis der Gefährdungsbeurteilung festgelegten arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen (siehe 6.3.) und ggf. mögliche Impfungen informiert werden.
Die Beschäftigten sind darüber hinaus zu informieren und zu beraten über
- die Notwendigkeit des Gebrauchs von Schutzkleidung (insbesondere Schutzhandschuhe, je nach Tätigkeit auch Atemschutz), deren Handhabung und den Wechselturnus soweit erforderlich
- und die konsequente Umsetzung von Hygienemaßnahmen.
Die Benutzung der PSA sowie die richtige Handreinigung und Händedesinfektion sollten trainiert werden.
6.3 Arbeitsmedizinische Vorsorge
6.3.1 Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung
Pflichtuntersuchungen
Pflichtuntersuchungen nach Anhang Teil 2 Abs. 1 ArbMedVV sind im Anwendungsbereich dieser TRBA im Hinblick auf die Infektionsgefährdung durch Hepatitis-A-Virus zu veranlassen. Hier ist nach entsprechender ärztlicher Beratung ein Impfangebot zu unterbreiten.
Daneben ergeben sich in der Regel weitere Anlässe für Pflichtuntersuchungen nach ArbMedVV. Dies ist z. B. der Fall bei:
- Feuchtarbeit von regelmäßig vier Stunden oder mehr je Tag,
- Tätigkeiten, die das Tragen von Atemschutzgeräten der Gruppe 2 (z. B. FFP-3-Masken) und 3 erfordern.
Angebotsuntersuchungen
Angebotsuntersuchungen nach Anhang Teil 2 Abs. 2 ArbMedVV sind erforderlich
- in Abhängigkeit vom Ergebnis der Gefährdungsbeurteilung im Hinblick auf eine Vielzahl von Infektionserregern (vgl. Kapitel 7 / Anhang 1 und Anhang 2). Falls es sich um impfpräventable Erreger handelt, schließt die Untersuchung Impfangebote nach ärztlicher Beratung mit ein,
- wenn als Folge einer Exposition gegenüber einem biologischen Arbeitsstoff mit einer schweren Infektion oder Erkrankung gerechnet werden muss und Maßnahmen der postexpositionellen Prophylaxe möglich sind,
- oder eine Infektion aufgetreten ist.
Anlässe für Angebotsuntersuchungen können sich aus möglichen weiteren relevanten Gesundheitsgefährdungen ergeben, wie:
- Feuchtarbeit von regelmäßig mehr als zwei Stunden je Tag,
- Tätigkeiten, die das Tragen von Atemschutzgeräten der Gruppe 1 (z. B. FFP-2-Masken) erfordern.
Treten Erkrankungen auf, bei denen die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs mit der Tätigkeit besteht (z. B. Durchfallerkrankung, Erkrankungen durch sensibilisierende und/oder toxische Wirkungen biologischer Arbeitsstoffe), ist unverzüglich eine arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung nach § 5 Abs. 2 ArbMedVV anzubieten.
Wunschuntersuchungen
Der Arbeitgeber hat den Beschäftigten nach § 11 ArbSchG regelmäßige arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen zu ermöglichen, sofern ein Gesundheitsschaden nicht ausgeschlossen werden kann. Im Anwendungsbereich dieser TRBA kann dies z. B. bei Exposition gegenüber Aerosolen mit sensibilisierenden und toxischen Eigenschaften der Fall sein.