1   Anwendung des Leitfadens

  Explosionsgefahren können in allen Unternehmen auftreten, in denen mit brennbaren Substanzen umgegangen wird. Zu diesen Stoffen zählen zahlreiche Einsatzstoffe, Zwischenprodukte, Endprodukte und Reststoffe aus dem alltäglichen Arbeitsprozess, wie Abbildung 1.1 zeigt.

 

Abbildung 1: Beispiele für die Entstehung explosionsfähiger Atmosphäre
  Abb. 1: Beispiele für die Entstehung explosionsfähiger Atmosphäre.
[aus IVSS-Broschüre "Gas Explosions", The International Section for the Prevention of Occupational Risks in the Chemical Industry, the International Social Security Association (ISSA), Heidelberg, Germany]
  Der Leitfaden richtet sich in erster Linie an kleine und mittelständische Unternehmen (KMU).
  Ziel des Leitfadens ist es deshalb, dem Arbeitgeber auf dem Gebiet des Explosionsschutzes zu ermöglichen:
  • Gefahren zu ermitteln und die Risiken zu bewerten,
  • spezifische Maßnahmen zum Schutz von Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer festzulegen, die durch explosionsfähige Atmosphäre gefährdet sind,
  • eine sichere Arbeitsumgebung zu gewährleisten und während der Anwesenheit der Arbeitnehmer eine angemessene Überwachung entsprechend der Risikobeurteilung sicherzustellen,
  • bei Beschäftigung mehrerer Unternehmen an einer Arbeitsstätte die erforderlichen Koordinierungsmaßnahmen und -modalitäten vorzunehmen und
  • ein Explosionsschutzdokument auszuarbeiten.
  Betroffen sind nahezu alle Branchen, da Gefährdungen durch explosionsfähige Atmosphäre bei unterschiedlichsten Prozessen und Arbeitsvorgängen entstehen. Beispiele zeigt Tabelle 1.1.

 

Tab. 1.1: Beispiele für Explosionsgefährdungen in verschiedenen Branchen
 
 
Branche
Beispiel für Explosionsgefährdung
Grafik: Chemische Industrie Chemische Industrie In der chemischen Industrie werden brennbare Gase, Flüssigkeiten und Feststoffe in vielfältigen Prozessen umgewandelt und verarbeitet. Bei diesen Prozessen können explosionsfähige Gemische entstehen.
Grafik: Deponien Deponien In Deponien können brennbare Deponiegase entstehen. Damit diese nicht unkontrolliert ausgasen und evtl. gezündet werden können, sind umfangreiche technische Maßnahmen notwendig.
Grafik: Energieerzeugende Unternehmen Energieerzeugende Unternehmen Aus stückigen, im Gemisch mit Luft nicht explosionsfähigen Kohlen können durch Förderung, Mahlung und Trocknung Kohlenstäube entstehen, die explosionsfähige Staub/Luft-Gemische bilden können.
Grafik: Entsorgungsunternehmen Entsorgungsunternehmen Bei der Abwasserbehandlung in Klärwerken können die entstehenden Faulgase explosionsfähige Gas/Luft-Gemische bilden.
Grafik: Gasversorgungsunternehmen Gasversorgungsunternehmen Bei der Freisetzung von Erdgas durch Leckagen oder Ähnliches kann es zur Bildung von explosionsfähigen Gas/Luft-Gemischen kommen.
Grafik: Holzverabeitende Industrie Holzverabeitende Industrie Beim Bearbeiten von Werkstücken aus Holz fallen Holzstäube an. Diese können z. B. in Filtern oder Silos explosionsfähige Staub/Luft-Gemische bilden.
Grafik: Lackierbetriebe Lackierbetriebe Das beim Lackieren von Oberflächen mit Sprühpistolen in Spritzkabinen entstehende Overspray kann ebenso wie die freigesetzten Lösungsmitteldämpfe mit Luft explosionsfähige Atmosphäre bilden.
Grafik: Landwirtschaft Landwirtschaft In einigen landwirtschaftlichen Betrieben werden Anlagen zur Gewinnung von Biogas betrieben. Tritt Biogas aus, z.B. aufgrund von Leckagen, können explosionsfähige Biogas/Luft-Gemische entstehen.
Grafik: Metallverarbeitende Betriebe Metallverarbeitende Betriebe Werden Formteile aus Metallen hergestellt, können bei der Oberflächenbehandlung (Schleifen) explosionsfähige Metallstäube entstehen. Dies ist insbesondere bei Leichtmetallen der Fall. Diese Metallstäube können in Abscheidern ein Explosionsrisiko hervorrufen.
Grafik: Nahrungsmittel- und Futtermittelindustrie Nahrungsmittel- und Futtermittelindustrie Beim Transport und der Lagerung von Getreidekörnern, Zucker etc. können explosionsfähige Stäube entstehen. Werden diese abgesaugt und in Filtern abgeschieden, kann im Filter explosionsfähige Atmosphäre auftreten.
Grafik: Pharmaindustrie Pharmaindustrie In der pharmazeutischen Produktion werden häufig Alkohole als Lösungsmittel eingesetzt. Außerdem können auch staubexplosionsfähige Wirk- und Hilfsstoffe, z.B. Milchzucker, eingesetzt werden.
Grafik: Raffinerien Raffinerien Die in Raffinerien gehandhabten Kohlenwasserstoffe sind alle brennbar und je nach Flammpunkt schon bei Umgebungstemperatur in der Lage, explosionsfähige Atmosphäre hervorzurufen. Die Umgebung der erdölverarbeitenden Apparaturen wird meist als explosionsgefährdeter Bereich angesehen.
Grafik: Recyclingbetriebe Recyclingbetriebe Bei der Aufbereitung von Recyclingmüll kann es beispielsweise zu Explosionsgefährdungen durch nicht restentleerte Dosen und andere Behältnisse mit brennbaren Gasen und/oder Flüssigkeiten oder durch Papier- oder Kunststoffstäube kommen.

 

Zu einer Explosion kommt es, wenn ein Brennstoff im Gemisch mit Luft (d.h. ausreichend Sauerstoff) innerhalb der Explosionsgrenzen sowie eine Zündquelle vorliegt (siehe Abb. 1.2).
  Warnzeichen: Explosionsdreieck
  Abb. 1.2: Explosionsdreieck
  Im Explosionsfall sind die Beschäftigten durch unkontrollierte Flammen- und Druckwirkungen in Form von Hitzestrahlung, Flammen, Druckwellen und umherfliegende Trümmer sowie durch schädliche Reaktionsprodukte und durch den Verbrauch des zum Atmen benötigten Sauerstoffs aus der Umgebungsluft gefährdet.
 
Beispiele:
  1. Bei Reinigungsarbeiten kam es innerhalb einer mit Kohle befeuerten Kesselanlage zu einer Explosion. Die beiden Mitarbeiter erlitten so starke Verbrennungen, dass sie starben. Als Ursache wurde eine Lampe mit einem defekten Anschlusskabel ermittelt. Aufgewirbelter Kohlenstaub wurde durch einen Kurzschluss gezündet.

  2. In einem Mischer wurden lösungsmittelfeuchte Stäube gemischt. Der Mitarbeiter inertisierte den Mischer vor Beginn des Prozesses nicht ausreichend. Während des Einfüllens entstand ein explosionsfähiges Lösungsmitteldampf/Luft-Gemisch, das durch elektrostatische Funken, die beim Einfüllen entstanden, gezündet wurde. Auch dieser Mitarbeiter erlitt starke Verbrennungen.

  3. In einem Mühlengebäude kam es zu einem Brand. Durch die vorhandenen Deckendurchbrüche kam es zu Folgebränden, durch die eine Staubexplosion ausgelöst wurde. Es wurden vier Mitarbeiter verletzt und das gesamte Mühlengebäude wurde zerstört. Der Sachschaden betrug 600.000 Euro.

 

Der Leitfaden dient als unverbindliches Hilfsmittel, um das Leben und die Gesundheit von Arbeitnehmern vor den Gefahren einer Explosion zu schützen.


1.1 Bezug zur Richtlinie 1999/92/EG

  Der Leitfaden behandelt nach Artikel 11 der Richtlinie 1999/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindestvorschriften zur Verbesserung des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit der Arbeitnehmer, die durch explosionsfähige Atmosphären gefährdet werden können, die Artikel 3, 4, 5, 6, 7 und 8 sowie die Anhang I und II A der Richtlinie (siehe Anhang 4). Die Zuordnung der Leitfadenkapitel zu den Artikeln und Anhängen ist Tabelle 1.2 zu entnehmen.
  Tab. 1.2: Zusammenhang zwischen einzelnen Artikeln der RL und Kapiteln des Leitfadens (Originaltext zu den genannten Artikeln der Richtlinie enthält Anhang 4).
 
Artikel
der RL 1999/92/EG
Titel
Leitfadenkapitel
Art. 2
Definition Anhang 1: Glossar
Art. 3
Verhinderung von und Schutz gegen Explosionen 3.1 Vermeiden explosionsfähiger Atmosphäre
3.3 Begrenzen der Auswirkungen
3.4 Anwenden von Prozessleittechnik
3.5 Anforderungen an Arbeitsmittel
Art. 4
Beurteilung der Explosionsrisiken 2. Beurteilen der Explosionsrisiken
Art. 5
Allgemeine Verpflichtungen 4. Organisatorische Maßnahmen
Art. 6
Koordinierungspflicht 5. Koordinierungspflichten
Art. 7,
Anh. I,
Anh. II
Bereiche mit explosionsfähigen Atmosphären 3.2 Vermeiden von Zündquellen
Art. 8
Explosionsschutzdokument 6. Explosionsschutzdokument

 

Um die Anwendung des Leitfadens zu erleichtern, weicht der Leitfaden in der Reihenfolge der Kapitel an zwei Stellen von der Reihenfolge der Artikel in der Richtlinie 1999/92/EG ab:
  1. Beurteilung von Explosionsrisiken in Kapitel 2 (Artikel 4 der RL) vor der Anwendung von Explosionsschutzmaßnahmen (Artikel 3, 5-7 der RL),

  2. Darstellung von Maßnahmen zur Verhinderung der Entzündung von gefährlicher explosionsfähiger Atmosphäre in Kapitel 3.2 (Artikel 7, Anhang I und II der RL) als Bestandteil technischer Explosionsschutzmaßnahmen nach Kapitel 3 (Artikel 3 der RL).

1.2 Anwendungsbereich des Leitfadens

  Der Leitfaden ist für alle Unternehmen gedacht, in denen es durch den Umgang mit brennbaren Stoffen zu gefährlicher explosionsfähige Atmosphäre und dadurch zu Explosionsgefahren kommen kann. Der Leitfaden gilt für den Umgang unter atmosphärischen Bedingungen. Zum Umgang gehören Herstellung, Bearbeitung, Verarbeitung, Vernichtung, Lagerung, Bereitstellung, Umschlag und innerbetriebliche Beförderung in Rohrleitungen oder mit anderen Hilfsmitteln.
 
Hinweis: Entsprechend der Legaldefinition zu "explosionsfähiger Atmosphäre" laut Richtlinie 1999/92/EG gilt der Leitfaden nur unter atmosphärischen Bedingungen. Richtlinie und Leitfaden gelten demnach nicht unter nichtatmosphärischen Bedingungen - allerdings ist in diesem Fall der Arbeitgeber keineswegs von seinen Pflichten zum Explosionsschutz entbunden. Hier gelten weiterhin die Anforderungen der übrigen Arbeitsschutz-Vorschriften.

 

Die Beschreibung der in den einzelnen Leitfadenkapiteln ausgeführten Themen des Explosionsschutzes erfolgt in einer Form, die sich insbesondere an kleine und mittelständische Unternehmen richtet. Der Leitfaden konzentriert sich deshalb auf die Vermittlung von Basiswissen und Prinzipien und verdeutlicht diese innerhalb des Textes an kleinen Beispielen. Ausführungen für Betriebe in Form von Musterformularen und Checklisten sind in Anhang 3 abgebildet. Darüber hinaus wird auf die in Anhang 2 genannten Vorschriften und weiterführenden Informationsquellen verwiesen.
  Entsprechend Artikel 1 der Richtlinie 1999/92/EG ist der Leitfaden nicht anwendbar auf:
  • Bereiche, die unmittelbar für die medizinische Behandlung von Patienten und während dieser Behandlung genutzt werden,
  • die Verwendung von Gasverbrauchseinrichtungen gemäß der Richtlinie 90/396/EWG,
  • den Umgang mit Sprengstoffen oder chemisch instabilen Stoffen,
  • mineralgewinnende Betriebe, die den Richtlinien 92/91/EWG oder 92/104/EWG unterliegen,
  • die Benutzung von Transportmitteln auf dem Land-, Wasser- und Luftweg, auf die die einschlägigen Bestimmungen der internationalen Übereinkünfte (z.B. ADNR, ADR, ICAO, IMO, RID) und die Gemeinschaftsrichtlinien zur Umsetzung dieser Übereinkünfte angewandt werden. Transportmittel zur bestimmungsgemäßen Verwendung in explosionsgefährdeten Bereichen sind nicht ausgenommen.
  Für das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme einschließlich der Beschaffenheit von Geräten und Schutzsystemen zur bestimmungsgemäßen Verwendung in explosionsgefährdeten Bereichen wird auf die Richtlinie 94/9/EG verwiesen.


1.3 Geltende Vorschriften und weiterführende Informationen

  Zur Erfüllung gesetzlicher Explosionsschutzbestimmungen der einzelnen Mitgliedsstaaten der EU ist die Anwendung dieses Leitfadens alleine nicht ausreichend. Maßgebend sind die nationalen Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten zur Umsetzung der Richtlinie 1999/92/EG, die über die diesem Leitfaden zu Grunde liegenden Mindestvorschriften der Richtlinie hinausgehen können. Einen Überblick hierzu kann ohne Gewähr von Vollständigkeit und Aktualität Anhang 2.2 geben.
  Um darüber hinaus die Umsetzung der Vorschriften mit Hilfe technischer und organisatorischer Maßnahmen zu erleichtern, existieren harmonisierte europäische Normen (EN), die von den nationalen Normungsinstitutionen gegen Gebühr vertrieben werden. Hierzu enthält Anhang 2.3 eine Übersicht.
  Weiterführende Informationen lassen sich den nationalen Vorschriften und Normen sowie der einschlägigen Literatur entnehmen. Werden hierzu einzelne Veröffentlichungen von den zuständigen nationalen Stellen der Mitgliedsstaaten als hilfreich angesehen und in den Leitfaden aufgenommen, können die Referenzen dem vorbereiteten Anhang 2.4 entnommen werden. Die Aufnahme einer Veröffentlichung in den Anhang muss jedoch nicht bedeuten, dass der gesamte Inhalt in vollem Einklang mit dem Leitfaden steht.


1.4 Behördliche und außerbehördliche Beratungsstellen

  Treten bei der Umsetzung der Explosionsschutzbestimmungen Fragen auf, zu denen der Leitfaden keine Antwort geben kann, sollten die nationalen Informationsträger vor Ort kontaktiert werden. Hierzu zählen regionale Arbeitsschutzbehörden, Unfallversicherungsträger oder Berufsverbände bzw. Industrie- und Handels- bzw. Handwerkskammern.
  Werden einzelne Organisationen von den zuständigen nationalen Stellen der Mitgliedsstaaten benannt und in den Leitfaden aufgenommen, sind sie dem vorbereiteten Anhang 2.5 zu entnehmen.