6. Ermitteln von Gefährdungen und Risiken
6.1 Welche Gefährdungen gibt es?
Als Gefährdung bezeichnet man allgemein eine Situation, in der die Möglichkeit einer Verletzung oder Gesundheitsschädigung gegeben ist. Um die an den Arbeitsplätzen vorhandenen Gefährdungen systematisch und vollständig zu erfassen, kann man sich an einer Liste von prinzipiell möglichen Gefährdungen orientieren. Die vorhandenen Gefährdungen lassen sich in folgende Gruppen einordnen:
- Mechanische Gefährdungen (z. B. durch betriebsmäßig ungeschützte Maschinenteile, durch gefährliche Oberflächen, Sturz- bzw. Absturzgefährdung)
- Elektrische Gefährdungen (z. B. beim Arbeiten an bzw. in der Nähe von Spannung führenden Anlagenteilen, bei Arbeiten unter erhöhter elektrischer Gefährdung)
- Chemische Gefährdungen (z. B. beim Umgang mit Gefahrstoffen, bei Exposition gegenüber Schadstoffen in der Atemluft)
- Biologische Gefährdungen (z. B. beim Umgang bzw. bei Kontakt mit biologischen Arbeitsstoffen wie Mikroorganismen, Pilzen, Bakterien, Viren)
- Brand- und Explosionsgefährdungen (z. B. beim Umgang mit leicht oder hochentzündlichen Stoffen, Arbeiten in explosionsgefährdeten Bereichen)
- Gefährdungen durch spezielle physikalische Einwirkungen (z. B. durch heiße oder sehr kalte Medien, Lärm, ionisierende Strahlung, Schwingungen)
- Gefährdungen durch ungünstige Arbeitsplatzgestaltung (z. B. durch mangelhafte Beleuchtung, klimatische Einflüsse, Heben und Tragen schwerer Lasten, ungünstige Anordnung von Arbeitsmitteln, Zwangshaltungen)
- Gefährdungen durch Arbeitsorganisation und Verhalten (z. B. mangelhafte Notfallorganisation, gefährliche Alleinarbeit)
- Psychische Gefährdungen (z. B. auf Grund von Überlastung oder Personalknappheit, Probleme bei der Arbeit im Team, Spannungen zwischen Kolleginnen/Kollegen/vorgesetzten Personen, fehlende Regelung von Zuständigkeiten und Verantwortung, Konflikte mit Gästen oder Kundschaft)
- Sonstige Gefährdungen (Gefährdungen durch Personen z. B. bei Beraubung, Gefährdungen durch Tiere z. B. in Zirkusbetrieben, durch stechende Insekten im Backwarenverkauf usw.)
Neben den klassischen Gefährdungsfaktoren (Maschinen, Sturz, Elektrizität, Gefahrstoffe, Lärm) muss die Beurteilung also auch die ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes, die Arbeitsorganisation und das Beschäftigtenverhalten mit einbeziehen.
Zu berücksichtigen sind sowohl Gefährdungen, die zu Unfällen führen können, als auch arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren. Im Anhang 1 dieser ASI ist ein ausführlicher Gefährdungskatalog enthalten, in dem für Nahrungsmittel- und Gastronomiebetriebe typische Gefährdungen zusammengestellt wurden.
6.2 Welche Gefährdungen werden betrachtet?
Bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung ist es entscheidend, den Blick primär auf die Beschäftigten im Arbeitssystem zu richten und die Gefährdungen zu ermitteln, die bei ihrer Tätigkeit auf sie einwirken (Abb. 3).
Abb. 3: Betrachtung des Mitarbeiters im Arbeitssystem
Hingegen ist es nicht sinnvoll, die übrigen Systemelemente in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen und deren Übereinstimmung mit den Anforderungen der Vorschriften zu bewerten bzw. einzelne Mängel hinsichtlich der Beschaffenheit von Arbeitsmitteln, baulichen Einrichtungen usw. zu identifizieren. Derartige Mängel können ggf. in einer separaten Liste erfasst und abgearbeitet werden, sie stellen aber nicht den Inhalt der Gefährdungsbeurteilung nach dem Arbeitsschutzgesetz dar. Die zwei Beispiele in Tabelle 3 können dies verdeutlichen.
Zeitpunktbetrachtung oder Zeitraumbetrachtung?
In vielen Fällen wird das Beurteilen der Arbeitsbedingungen mit dem Abchecken von Sachverhalten verwechselt. Die meisten bekannten Checklisten zur Gefährdungsbeurteilung sind so aufgebaut, dass nur Sachverhalte im Sinne einer Zeitpunktbetrachtung (Zustand heute, zum Zeitpunkt der Betrachtung) abgeprüft werden. Wichtig ist jedoch nicht das Abchecken, sondern das Hinterfragen der Systemstrukturen. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen:
Zeitpunktbetrachtung/Abchecken:
Es wird z. B. abgeprüft, ob die erforderlichen Sicherheitseinrichtungen an den Maschinen vorhanden sind. Sind diese zufällig am Tag der Beurteilung (Zeitpunktbetrachtung) vorhanden, geht man davon aus, dass keine Gefährdung vorliegt. Bei dieser Betrachtungsweise besteht die Gefahr, dass bestimmte Betriebszustände (Störungsbeseitigung, Reinigung) oder Wechselwirkungen mit anderen Arbeitsplätzen/Tätigkeiten nicht oder nicht angemessen berücksichtigt werden.
Zeitraumbetrachtung/Beurteilen:
Bei der Zeitraumbetrachtung hingegen werden offene Fragen (sog. "W-Fragen") gestellt. Hier zwingt man den Beurteiler zum Hinterfragen des Systems, zum Informations austausch mit den Betroffenen und somit zur eigentlichen Beurteilung der Arbeitsbedingungen.
Solche Fragestellungen können z. B. sein:
- Wie sind die Abläufe beim Bedienen der Maschine?
- Welche Störungen treten auf, wie häufig und wie werden diese behoben?
- Wie und wie oft wird die Maschine gereinigt? Wer führt diese Arbeiten durch?
- Welche zusätzlichen Tätigkeiten/Aufgaben hat die Person an der Maschine?
Mit diesen offenen Fragen kommt man automatisch zu den Defiziten bzw. zu den Verbesserungspotenzialen. Davon werden die Teilmaßnahmen abgeleitet, die nicht auf den Zeitpunkt, sondern auf den Zeitraum nach der Beurteilung ausgerichtet sind und durch präzise Nennungen von Verantwortlichkeiten konkretisiert werden. Damit führen die Ergebnisse der Beurteilung zu einer signifikanten Verbesserung des betrieblichen Arbeitsschutzniveaus und wirken nachhaltig.
Tab. 3: Sinnvolle und nicht sinnvolle Betrachtung im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung
Nicht sinnvoll … | Sinnvoll … | |
… im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung nach ArbSchG: | ||
Arbeit an einer Verpackungsmaschine |
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Reinigung von Oberflächen mit einem Gefahrstoff |
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6.3 Welche Gefährdungen sind relevant?
Eine Gefährdung sollte nur dann in die Beurteilung aufgenommen werden, wenn sie typisch (signifikant) für den betreffenden Arbeitsplatz ist und wenn eine relevante (d.h. nicht nur hypothetische) Wahrscheinlichkeit einer Unfall- oder Gesundheitsgefahr besteht. Der Umfang der Gefährdungsbeurteilung wird durch diesen Ansatz auf ein sinnvolles Maß begrenzt.
Beispiele:
- Die Gefährdung "Sturz auf der Ebene" trifft grundsätzlich auf alle Beschäftigten eines Betriebes zu, denn jeder kann ausrutschen und stürzen. Im Sinne der Gefährdungsbeurteilung liegt aber erst dann eine signifikante und relevante Gefährdung vor, wenn z. B.
- durch Eigenschaften des Produktionsprozesses der Boden häufig rutschig ist (durch anfallende Reste, Feuchtigkeit, Öl),
- durch die Art der Arbeitsstätte besondere Bedingungen vorliegen (witterungsbedingte Glätte bei Arbeiten im Freien etc.),
- durch die Arbeitsaufgabe die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes erhöht ist (z. B. wenn ein Mitarbeiter häufig unübersichtliche Lasten über größere Entfernungen, über Ausgleichsstufen o. ä. tragen muss).
- Eine Gefährdung durch elektrischen Strom sollte nicht automatisch immer dann angenommen werden, wenn Mitarbeiter mit elektrisch betriebenen Maschinen und Geräten umgehen, sondern nur dann, wenn
- eine erhöhte elektrische Gefährdung bei bestimmten Tätigkeiten besteht (z. B. bei Arbeiten mit Elektrogeräten in engen Räumen oder Behältern),
- an bzw. in der Nähe von unter Spannung stehenden Anlagenteilen gearbeitet wird (z. B. bei der Fehlersuche in Schaltschränken durch Elektropersonal).
6.4 Risikobewertung
Im Anschluss an die Ermittlung der Gefährdungen kann eine Bewertung des Risikos hilfreich sein, beispielsweise um den Umfang und die Dringlichkeit der zu treffenden Maßnahmen besser einschätzen zu können. Bei der Bewertung des Risikos sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen, insbesondere
- die Schwere eines möglichen Schadens (leichte Verletzung/Gesundheitsschädigung oder schwere bzw. irreversible Verletzung/Gesundheitsschädigung),
- die Wahrscheinlichkeit des Schadensereignisses (seltenes, gelegentliches, häufiges Auftreten des Ereignisses),
- die Häufigkeit der Exposition von Personen und
- die Möglichkeit zur Schadenserkennung bzw. -abwendung.
Die Identifizierung hoher Risiken (hohe Schadensschwere, verbunden mit entsprechender Eintrittswahrscheinlichkeit) erfordert immer die Festlegung umfangreicher Maßnahmen, die mit hoher Zuverlässigkeit wirksam sind und deren Umsetzung engmaschig und konsequent zu prüfen ist.